Carlotta – Herzklopfen im Internat by Dagmar Hoßfeld

Autor:Dagmar Hoßfeld [Hoßfeld, Dagmar]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Carlsen Verlag, Hamburg
veröffentlicht: 2015-10-13T00:00:00+00:00

Den ganzen Tag muss Carlotta an den Poetry-Slam denken. Sie fühlt sich wie elektrisiert. Nikos Angebot hat es tatsächlich geschafft, sie von dem Treffen mit Jonas abzulenken. Inzwischen ist sie ziemlich fest entschlossen mitzumachen. Sie sieht ihre Performance schon vor sich. Wilde, leicht verzerrte und verwackelte Fotos vom Schloss und vom See. Am besten wäre es, wenn in den nächsten Tagen ein Unwetter toben würde. Ein Sturm, ein Gewitter. Vielleicht sogar ein Tornado. Je schlimmer, desto besser! Sie würde keine Sekunde zögern und alles im Bild festhalten. Schwarz-weiß, bunt, monochrom. Oder soll sie vielleicht doch lieber die Teilnehmer des Slams fotografieren und die Porträts an die Leinwand werfen? Nein, Porträts sind Nikos Spezialität. Entfesselte Natur ist besser!

„Viel besser!“, sagt sie laut und spürt die Begeisterung bis in die Haarspitzen.

Dass sie laut gesprochen hat, macht nichts. Sie hockt ganz allein vor einem riesigen Computer in einem Nebenraum des Fotostudios und lässt Passfotos durch ein vollautomatisches Korrekturprogramm laufen.

In einer endlosen Reihe ziehen wildfremde Gesichter wie auf einem Fließband an ihr vorbei. Nach ein paar Minuten hat Carlotta aufgehört Einzelheiten wahrzunehmen. Mal sind die Haare blond, mal braun, mal schwarz, mal lang, mal kurz. Mal sind die Gesichter jung, mal alt. Wegen der Vorschriften für amtliche Passbilder haben alle Kunden einen identischen Gesichtsausdruck. Es wär toll, wenn zwischendurch mal einer lächeln würde, überlegt Carlotta. Oder eine rote Clownsnase aufhätte. Aber das passiert natürlich nicht. Es gibt nur ausdruckslose, ernste Mienen. Richtig unheimlich. Wie geklonte Schaufensterpuppen.

Sie schaut auf die Wanduhr und gähnt. Noch eine Viertelstunde bis zur Mittagspause.

Als es so weit ist, winkt sie Frau Weinreich zu und verlässt den Laden. Herr Brauer ist mal wieder unterwegs.

Der hat’s gut, denkt Carlotta. Der kann den ganzen Tag fotografieren, während Frau Weinreich das Geschäft hütet und ich mir am Bildschirm viereckige Augen hole.

Sie hat eine halbe Stunde Mittagspause. Es lohnt sich nicht extra ins Internat zu fahren. Sie hat sich mit Julian verabredet, um irgendwo eine Kleinigkeit zu essen. Eigentlich würde sie viel lieber fotografieren. Sie hat extra ihre Kamera mitgenommen. Aber das Knurren ihres Magens ist nicht länger zu ignorieren.

Sie entdeckt Julian vor dem Schaufenster des noblen Herrenausstattergeschäfts. Er bewundert gerade sein eigenes Spiegelbild. Carlotta macht schnell einen Schnappschuss, ohne dass er es merkt, und tippt ihm anschließend auf die Schulter. „Hi, Julian!“

Julian zuckt leicht zusammen. Dann überprüft er ein letztes Mal den Sitz seines karierten Jacketts, fährt sich mit einer Hand über die Haare und nickt ihr zu.

„Wie war dein Tag?“

Carlotta grinst. „Ganz okay bis jetzt. Und deiner?“

„Ich habe heute einen Anzug verkauft. Mein Chef hat mich sehr gelobt. Er meint, ich hätte ein Händchen für das Beratungsgespräch und außerdem einen erlesenen Geschmack.“ Julian lächelt selig. „My goodness! Ich glaube, ich höre mit der Schule auf und mache eine Ausbildung zum Herrenausstatter. Die Arbeit liegt mir. Die Stoffe, die Schnitte, die gediegene Atmosphäre im Laden … Ich liebe das alles!“

„Klingt perfekt“, grinst Carlotta. „Und es passt irgendwie zu dir.“

„Kein Zweifel“, nickt Julian.

In dem Imbiss, den sie ansteuern, ist die Hölle los. Hungrige Schüler, Handwerker, Büroangestellte, Rentner – alle scheinen Appetit auf Pommes und Hamburger zu haben.

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